110 Jahre und kein bisschen müde

Backofen

Der Ofen im Hirschen Wald erzählt seine Geschichte

Meine blauen und weissen Kacheln strahlten, als ich 1914 das Licht der Welt erblickte. Die Geburt fiel in eine turbulente Zeit. Im gleichen Jahr brach der erste Weltkrieg aus, der Panamakanal wurde eröffnet und ein gewisser Oskar Barnak liess die erste Kleinbildkamera der Welt patentieren. Und eben: Ich, der blau-weisse Kachelofen im Hirschen zu Wald wurde geboren.

Es ist also schon eine ganze Weile her, seit ich die ersten Brote gebacken habe. Wollt Ihr wissen, wie es dazu kam?

Katharina Mettler-Buff, die den Hirschen gemeinsam mit ihrem Gatten Johannes Mettler im Jahre 1899 erworben hatte, war 1914 bereits Witwe. Als Mutter von sechs Kindern und Hirschen-Wirtin hatte sie es alles andere als leicht. Aber sie kämpfte für die Zukunft ihrer Familie. Zum Hof gehörte schon länger auch eine Bäckerei, aber der alte Sandsteinofen taugte leider nicht mehr viel. So entschied sich Katharina, einen neuen Ofen einbauen zu lassen. Und es sollte nicht irgendeiner, sondern ein richtig guter Ofen sein, einer, der die Existenz der Familie langfristig sichern konnte. Die bekanntesten Spezialisten auf dem Gebiet des Ofenbaus waren zu jener Zeit die Gebrüder Oberle aus dem grenznahen Villingen-Schwenningen. Sie waren es, die mich im Hirschen in wochenlanger Arbeit eingebaut haben.

Ehrlich gesagt, war ich schon damals ein kleines Prunkstück. Das hatte natürlich seinen Preis. Ganze 5‘000 Franken musste die liebe Katharina für mich hinblättern. Das war damals eine Menge Geld, insbesondere, wenn man bedenkt, dass ein gelernter Bäcker im Monat höchstens 180 Franken verdiente. Ein Kilogramm Brot kostete damals gerade mal 35 Rappen. Ja: ich musste viele tausende von Broten backen, um auch nur einen Bruchteil meiner Anschaffungskosten wieder heraus zu holen. Ich fürchte, dass ich meiner Chefin damals viele schlaflose Nächte bereitet habe…

Die ersten Bäcker

Der Fritz und die Berta hatten fünf Kinder. Bruno, Silvia und Werner wurden während des zweiten Weltkriegs geboren. In dieser Zeit musste für die Brotherstellung das Mehl mit Kartoffeln gestreckt werden. Und wenn der Fritz nicht aufpasste und mich nicht genügend aufheizte, haben die Brote manchmal richtige Fäden gezogen. Zudem mussten die Brote mindestens einen Tag alt sein, bevor sie verkauft oder ausgeliefert werden durften. Das war ein Erlass des Bundes, um den Brotkonsum in Grenzen zu halten.

Am Anfang war es der Jakob Bruderer, der mir die Brote in Obhut gab. Die Katharina hatte ihn als Bäcker eingestellt und später auch geheiratet. Er machte noch richtig grosse Brote, meist Drei-Pfünder und Fünf-Pfünder, das hat mir gefallen. Dann kam der Fritz, der jüngste Sohn von der Katharina. Er lernte sein Handwerk von seinem Stiefvater und war ein tüchtiger Bäcker, der mich oftmals richtig forderte. Dank ihm durfte ich viele neue süsse Spezialitäten wie zum Beispiel die „Sprötzerli“ backen, welche die Berta, seine junge Frau, als Mitgift in die Ehe eingebracht hatte.

Ich hatte damals auch richtig viel Konkurrenz. Es gab in Wald ganze neun Bäckereien: im Dorf den Hecht und den Löwen, im Unterdorf den Lutz und den Schittli, im Nageldach den Sternen, im Neuret die Rose, in der Säge das Rössli, das Restaurant und Bäckerei Girtanne in der Girtanne und natürlich den Hirschen im Büel mit meiner Wenigkeit. Zudem trugen die Bäckerei vom St. Anton in Oberegg AI und die Bäckerei in der Nase in Rehetobel auch noch Brot in Wald aus. Ihr seht, der Wettbewerb war gross… der Bäcker vom St. Anton brachte das „katholische Brot“ und die anderen das „reformierte Brot“.

Kinder-Geschichten

Auch die Kleinsten mussten in jener Zeit Einsatz zeigen: Einmal schickte der Fritz die kleine Silvia und den kleinen Werner, die beide noch nicht in die Schule gingen, auf Brottour. Sie sollten vier Fünf-Pfünder in die Riesi bringen. Die Brote waren fast so gross, wie sie selbst. Berta packte die Brote in zwei Rucksäcke und erklärte den beiden Pfüderis, wohin sie diese bringen sollten. Der Ausflug dauerte zwar einen halben Tag, aber meine guten Brote kamen heil an, so zumindest kam es mir zu Ohren.

Nach dem Krieg gab es Zuwachs bei den Mettlers. Annelies und Elsbeth wurden geboren. Jetzt waren es schon fünf Kinder, die mir im Winter jeweils vor dem ins Bett gehen ihre „Chriesimannä“ zum Aufwärmen in Obhut gaben. Ich machte das gerne, damit die Rasselbande warme Betten hatte und endlich etwas Ruhe ins Haus kam. Schliesslich war ich damals nebst einem kleinen Ofen in der Stube die einzige Wärmequelle im Haus.

Die Geschichten rund um die Brottouren der Kinder waren für mich immer unterhaltsam, auch wenn ich manchmal um meine Brote richtig bangen musste. Der Werner ging sehr oft mit Skiern oder mit dem Velo auf Tour. Vom Hirschen bis zur Käserei im Neuret waren es ganze 16 Riegel und Drähte, die er auf und zu machen musste. Ein einziger Hindernislauf… zudem überschlug es ihn manchmal und die Brote, die damals nur in einem Tuch in der Kränze lagen, purzelten auf den Weg oder auf die Wiese. Bei jedem Wetter sammelte er die Brote ein, wischte sie etwas ab und machte sich wieder auf den Weg… Die Hygiene wurde damals unterschiedlich interpretiert… das fanden auch die Frau Sonderegger vom Löwen und der Lehrer Tanner… die sich ab den unverpackten Broten sichtlich störten, aber dennoch immer davon assen.

In den 50er Jahren baute mir der Fritz eine neue Feuerung ein. Von nun an sollte ich nicht mehr mit Holz, sondern mit Öl aufgeheizt werden. Ehrlich gesagt, stand ich dieser Sache etwas skeptisch gegenüber, denn schliesslich wusste ich nicht genau, was auf mich zu kam. Mein Kollege im Hecht wurde zur gleichen Zeit auch „renoviert“. Nach einigen kleinen Anlaufschwierigkeiten gewöhnte ich mich schnell daran, der Ofen im Hecht hingegen bekam kurz nach seinem „Update“ einen Riss und musste ersetzt werden. Ob es an der Qualität des Ofens oder doch vielmehr an der Qualität seines Heizers lag, bleibt bis heute unklar.

Ein neuer Wind

Seit den achtziger Jahren bedient mich nun der Sohn vom Fritz, der Werner. Als gelernter Konditor-Confiseur war er sich eigentlich etwas Besseres gewöhnt. Aber auch wir wurden richtig gute Freunde und sind mittlerweile seit mehr als 30 Jahren ein eingespieltes Team. Am liebsten hab ich‘s, wenn er mir wieder mal ein richtig grosses Brot zum Backen gibt. Nur leider kommt dies immer seltener vor. Aber wenn Ihr mal ein Fest zu feiern habt oder sonst für eine besondere Gelegenheit ein schönes grosses Brot wollt, dann denkt doch an mich. Denn im Gegensatz zu all den neuen High Tech-Öfen, die den Fünf-Pfünder zwar hinein, aber nicht mehr heraus bringen, kann ich noch immer richtig grosse Dinger backen. Ich hab halt noch einen Backraum mit einer anständigen Höhe

Seit ich älter geworden bin, backe ich nicht mehr jeden Tag, aber am Montag, Donnerstag, Freitag und Samstag zeige ich immer noch, was in mir steckt. Ich bin auch froh, dass ich im Hirschen zu Hause sein darf, denn an einem anderen Ort hätte man mich wahrscheinlich schon lange durch ein modernes Modell ersetzt, das viel schneller arbeitet als ich. Aber meine Brote, die vom Werner noch nach alter Rezeptur mit Vorteig geknetet werden, schmecken nicht nur hervorragend, sie bleiben auch problemlos während drei bis vier Tagen schmackhaft und frisch. Ich hoffe, Ihr kommt noch viele Jahre und geniesst meine Spezialitäten, denn ich will noch viele Jahre weiterbacken.